von Ulrich Kritzner
Methodik und Zielsetzung der „HR-Demographie“ im strategischen HR-Management
In den letzten Jahren wurde in der Öffentlichkeit das gesellschaftliche Augenmerk auf die „kippende“ Alterspyramide unter dem Begriff „Demographischer Wandel“ gelegt. Die Überalterung der Bevölkerung aufgrund sinkender Geburtenzahlen, der drohende Kollaps von Renten- und Sozialsystemen, die steigenden Kosten der Gesundheitsvorsorge, Fragen der Zuwanderung, drohender Fach- und Führungskräftemangel und die Frage nach den Möglichkeiten öffentliche Infrastruktur vorzuhalten treiben die Diskussion voran.
Diese Entwicklung bzw. diese Diskussion bleibt in unternehmerischen Organisationen weitgehend unberücksichtigt (Vgl.: Lutz 2010). Lediglich größere international agierende Konzerne beschäftigen sich mit ihrer eigenen Altersstruktur, Demographiefragen und erforderlichen Strategien. Kleinere und mittlere Konzerne und KMU-Unternehmen berücksichtungen demographische Probleme bei ihrer Formulierung der Unternehmensstrategien noch unangemessen.
Gleichwohl bieten bekannte Methoden wie die der „System Dynamics“ (SD) in Verbindung mit modernen Softwaretools, wie z. B. dem Consideo-Modelers[1], ausreichende Ansätze und Hilfsmittel zur Auseinandersetzung mit der Problematik.
Begriffliche Definition „HR-Demographie“
„HR-Demographie“ oder „Human-Ressource-Demographie“ bezeichnet die strategische Sichtweise auf die sich in den verschiedenen Ausprägungsebenen einer betrieblichen Organisation im Zeitverlauf verändernden Altersstruktur der Belegschaft. Die verschiedenen Ausprägungsformen bezeichnen einzelne Berufs- und/oder Ausbildungsgruppen wie z.B. technische Angestellte, kaufm. Angestellte, Facharbeiter, Auszubildende oder Abteilungen, Profitcenter, Abrechungseinheiten oder andere Strukturierungen (F&E-Personal, Produktion, etc.). Neben den Betrachtungsebenen aus betriebsorganisatorischer Sicht kommen noch Ebenen der individuellen Qualifikation oder des Geschlechts hinzu.
Eine Besonderheit der „HR-Demographie“ besteht in der Tatsache, dass altersbedingte Veränderungen im Unternehmen gleichzeitig in die Veränderungsprozesse der allgemeinen demographischen Bevölkerungsentwicklung eingebettet sind.
Auf der einen Seite unterliegen die Mitarbeiter einer Unternehmungentweder entweder einem freiwilligen Ausscheiden aus dem Unternehmen (individuelle Arbeitsplatzwahl) oder im Falle einer Restrukturierung einem zwanghaften, aber bei der Einstellung in der Regel nicht geplanten, Ausscheiden. In ähnlicher Form handelt es sich auf der anderen Seite bei Einstellungen in Unternehmen um verhältnismäßig kurzfristig geplante aber freiwillige Maßnahmen. Bei der allgemeinen demographischen Entwicklung unterliegen die Mitglieder einer Gruppe – hier also die Bevölkerung allgemein – langfristigen und nur schwer beeinflussbaren Gesetzmäßigkeiten bzgl. Sterbe- und Geburtenraten. Damit bewegen sich ein Unternehmen und seine Mitarbeiter innerhalb der betrieblichen Personalplanungen in einem ähnlich alternden System mit unter Umständen völlig abweichender Altersstruktur. Im Gegensatz zu den nur schwer beeinflussbaren Parametern der allgemeinen demographischen Entwicklung können Unternehmen ihre Altersstruktur und die strukturell bedingten Kosten durch gezielte Maßnahmen der Qualifizierung, Mitarbeiterauswahl und Kapazitätserweiterungs- oder Kapazitätsreduzierungsmaßnahmen kurz und mittelfristig beeinflussen.
Schwerpunkte der „HR-Demographie“
Ein Schwerpunkt liegt zunächst in der grundsätzlichen Erkenntnis, wie sich die Altersstruktur des Unternehmens in Zukunft entwickeln wird. Hierbei haben die oben genannten Ausprägungsebenen eine besondere Bedeutung. Diese stellen Ziel- und damit Auswertungsgrößen dar.
Es ist aufgrund des demographischen Wandels nicht davon auszugehen, dass eine unbegrenzte Verfügbarkeit von Personal in den gewünschten Berufs- und Ausbildungskategorien gegeben sein wird. Somit bezieht sich die „HR-Demographie“ ferner auf die Betrachtung sich verknappender Personalressourcen am Arbeits- und Ausbildungsmarkt.
Als Mittel des HR-Managements dient die „HR-Demographie“ der Erarbeitung von langfristigen Strategien im Umgang mit einer sich im Altern verändernden Mitarbeiterstruktur. Hierzu zählen, Recruiting, Prozesskosten (Personalsuche, Einstellung, Einarbeitung etc.), Arbeitsplatzschaffungskosten, Weiterbildung, Aus- und Fortbildung, Gesundheitsvorsorgeprogramme, Fluktuation, Zufriedenheit, Krankenquote, Fluktuation etc..
Hilfsmittel und Methodik der Strategieentwicklung in der „HR-Demographie“
Im Umfeld des HR-Managements stellen die Fragen der mittel- und langfristigen Personalausstattung einen Teilaspekt der generellen Unternehmensstrategie dar. Diese Strategiebildung bewegt sich in einem sozioökonomischen und soziodemographischen Umfeld bestehend aus einer Vielzahl an Einflussgrößen. Hierbei spielen Fragen der Unternehmensplanung mit Wachstums- und Schrumpfungsprozessen, Lohn- und Gehaltsgefüge, Qualifikationen genauso ein Rolle wie die Verfügbarkeit an Arbeits- und Fachkräften im Markt, Firmenimage oder Mitarbeiterzufriedenheit. Aus diesem Grund eignen sich Planungsmethoden der System Dynamics, die die Aufgabenstellungen in einer Welt aus in sich vernetzten Strukturen[2] wahrnehmen, erfassen und abbilden, besonders gut. Diese Methoden ermöglichen ebenfalls die Berücksichtigung sogenannter „weicher“ Faktoren wie z.B. Firmenimage oder Mitarbeiterzufriedenheit. System Dynamics ist ein auf regelungstechnischen Prinzipien aufbauender Ansatz zur Beschreibung der Struktur und zur Analyse des Verhaltens dynamischer Systeme mit Hilfe der Simulation.[3] Entsprechende Softwareprogramme, mit deren Hilfe sich entsprechende Simulationsmodelle aufbauen und Simulationsexperimente durchführen lassen, sind auf dem Markt verfügbar.[4]
Insbesondere Modelle zur dynamischen Abbildung von Altersstrukturen mit Hilfe quantitativer Simulationsmodelle lassen sich mit den Methoden der System Dynamics hervorragend erstellen (Vgl.: Abbildung 1).[5][6]
Abbildung 1: Beispiel einer Verkettung von Altersklassen in einem SD-Modell mit Hilfe des Consideo-Modelers
Fragestellungen im Umgang mit HR-Demographie
Typischerweise stellen sich Fragen zu den mittel- und langfristigen Auswirkungen der Mitarbeiter-Altersstruktur im Rahmen der Unternehmensplanung, wobei je länger der Planungshorizont ist, desto „visionärer“ gestaltet sich die Planung. Im Gegensatz zu vielen unternehmerischen Planungsaufgaben ist der Zusammenhang zwischen Unternehmensplanung und HR-Demographie in der Art zu sehen, dass eine kurz- bis mittelfristige Personalplanung eine mittel- bis langfristige Auswirkung auf die Altersstruktur der Belegschaft und die damit verbunden Kosten hat. Eine kurzfristige Reorganisationsmaßnahme mit Kapazitätsreduzierung kann langfristige Effekte durch eine drastische demographische Verschiebung mit sich bringen. Selbst mittelfristige Maßnahmen, wie z.B. die in den 80er und 90er Jahren beliebte und vielfach praktizierte Vorruhestandsregelungen kann bei Unternehmen bestimmter Branchen langfristig zu einer erheblichen Störung der Leistungserbringung führen.
In verschiedenen Unternehmensphasen gestalten sich Fragestellungen beispielweise wie folgt:
- Stagnationsphase: Das Unternehmen befindet sich in einer Phase guter Marktpositionierung ohne kurzfristige Notwendigkeit der Kapazitätsanpassung. Ohne Beachtung der demographischen Struktur der Belegschaft ergeben mittel- und langfristige Überalterungseffekte mit dem Effekt, dass es u.U. Phasen einer hohen Verrentung gibt, auf die das Unternehmen weder vorbereitet ist noch sich Personal in notwendiger Qualifikation kurzfristig finden lassen wird.
- Expansionsphase: Das Unternehmen wächst stark und schafft eine maßgebliche Anzahl an zusätzlichen Stellen. Ohne Beachtung einer gezielten Einstellungsstrategie hinsichtlich der Altersstruktur oder des Geschlechts, kann es zu einem späteren Zeitpunkt zu erhöhter Fluktuation aufgrund von Wettbewerbssituationen am Arbeitsmarkt oder zu überproportionaler Verrentungen kommen.
- Konsolidierungsphase: Ein Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten kann als eine Konsolidierungsmaßnahme die Personalkapazitäten reduzieren. Dies soll im Wesentlichen ohne Kündigungsmaßnahmen geschehen. Fraglich ist, ob diese Maßnahmen tatsächlich aufgrund der gegebenen Altersstruktur möglich sind. Die langfristigen Auswirkungen auf die Alters- und Kostenstruktur sind nicht absehbar. Gerade, wenn sich nach einigen Jahren wieder Expansionsaufgaben stellen, ist die Vorbereitung hinsichtlich einer Stellenbesetzungsstrategie wichtig. Aus- und Weiterbildung sowie innerbetriebliche Qualifizierungsmaßnahmen hängen in nicht unwesentlichem Maße von der Altersstruktur und der Einstellungsstrategie ab.
Analog zu den unternehmensbezogenen Phasen kommt die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt hinzu:
- Demographischer Wandel: Insbesondere die Tatsache einer Überalterung der Gesellschaft wird den Zwang zur umfangreichen Produktivitätserhöhung bedingen. Fragen des Umfangs von Rationalisierungsmaßnahmen werden in den Vordergrund treten. Gleichzeitig wird ein immer kleiner werdender Anteil der Bevölkerung (Arbeitnehmer) für einen stetig steigenden Anteil an Rentenempfänger aufkommen müssen. Damit werden sich die Lohn- und Gehaltsgefüge ebenfalls verändern. Weiterhin wird sich die Verfügbarkeit von Fach- und Führungskräften am Arbeitsmarkt verknappen und in ihre Altersstruktur deutlich zu Gunsten älterer Arbeitnehmer verändern.
- Fluktuation: Mit Sicherheit wird sich die ausgeglichene Fluktuation in bestimmten Alters- und Ausbildungsbereichen verändern. Unternehmen werden unterschiedlich auf die sich ändernden Bedingungen am Arbeitsmarkt reagieren. Oft wird zunächst versucht, Mangelerscheinungen über Lohn- und Gehaltsanpassungen zu kompensieren. Gerade in dieser Hinsicht ist für Unternehmen zwischen direkten und indirekten Kosten einer überproportionalen Fluktuation (Arbeitsplatzschaffungskosten, Einarbeitung, Ausbildung, Effizienz etc.) und einer gezielten Anpassung des gesamten Lohngefüges abzuwägen.
- Alters-, geschlechter- und nationalitätenspezifische Struktur: Entsprechende Modellbedarfsrechnungen werden dynamisch zeigen, welche Anteile hinsichtlich Alter, Geschlecht und nationaler Herkunft zu einer ausgewogenen Struktur einer Belegschaft führen, die gleichzeitig Fragen der Lohngerechtigkeit und der notwendigen Qualifikation nicht unbeachtet lassen. Es werden Fragen zur unkonventionellen Lösung dieser Aufgaben beantwortet werden müssen, wozu nicht nur Möglichkeiten von Betriebskindergärten und flexiblen Arbeitszeiten gehören können. Im Eigentlichen wird es um eine gruppenspezifische Förderung der Belegschaft gehen, worunter Fragen der Gesundheitsvorsorge, des Umgangs mit dem Krankenstand, der firmenindividuellen Ausbildung von Fachkräften auch im Ausland und deres Einsatzes im Inland fallen werden.
Unternehmens- und gesellschaftsbezogene demographische Frage- und Aufgabenstellungen sind in ihrer quantitativen Ausprägung abschätzbar. Die Ableitung von Strategien in Vorbereitung von Handlungsoptionen bedürfen der Herleitung von Szenarien und deren firmen- und marktindividuellen Bewertung. Nur durch einen stetigen Abgleich der tatsächlichen Gegebenheiten mit entwickelten Strategien gelingt eine zukunftssichernde mittel- und langfristige Personalpolitik.
Fazit
Unternehmen und Organisationen unterliegen in doppelter Hinsicht einer demographischen Entwicklung. Zum einen in deren gesellschaftlicher Einbettung und zum anderen in deren eigener mikroökonomischen Welt. Die generelle Verschiebung der demographischen Altersstruktur wird sich auf Unternehmen und Organisationen in erheblichem Umfang auswirken und letztlich deren Kostenstruktur und Wettbewerbsfähigkeit beeinflussen. Entsprechende Methoden und Werkzeuge im Bereich der „HR-Demographie“ stehen zur Planung von Strategien im Umgang mit diesen zwangsläufigen Zukunftserscheinungen bereit.
Literaturverzeichnis
Bossel, H. (2004). Systemzoo 3, Wirtschaft, Gesellschaft und Entwicklung. Norderstedt.
Hirschhäuser, K.-F. (1981). Konjunkturanalyse mit Hilfe von System Dynamics-Simulationsmodellen. Göttingen.
Lutz, B. (2010). Fachkräftemangel in Ostdeutschland – Konsequenzen für Beschäftigung und Interessenvertretung. OBS- Arbeitsheft 65. Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/ Main.
Neumann, K. (2009). Know-Why. Management kapiert Komplexität. Norderstedt.
Salge, M., & Strohecker, J. (2008). System Dynamics für die Finanzindustrie, Simulieren und Analysieren dynamisch-komplexer Probleme. Kaskadische und parallele Bestandsstrukturen. (J. Strohhecker, & J. Sehnert, Hrsg.) Frankfurt a.M.
Vester, F. (2001). Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Stuttgart.
Autor: Ulrich Kritzner ist freier Berater bei Clockwise Consulting und berät Kunden in den Bereichen Finanzierung und HR Demographie.
Ulrich Kritzner, UK Kritzner Consulting, Schützenstraße 29, 99448 Kranichfeld, www.kritzner.com
[1] Vgl. (Neumann, 2009)und www.consideo.de.
[2] Zur Vertiefung siehe auch (Vester, 2001).
[3] (Hirschhäuser, 1981), S. 24 ff.
[4] Z.B. Consideo-Modeler (www.consideo.de), Dynamo (PA Consulting Group), Dynasys (www.hupfeld-software.de), Expose Excel Add-in (www.attunegroup.com), Ithink/Stella (www.iseesystems.com), Powersim (www.powersim.com), mystrategy (www.globalstrategydynamics.co.uk).
[5] (Bossel, 2004), S. 133 ff.
[6] (Salge & Strohecker, 2008), S. 231 ff.